Die klassische Veterinärmedizin lässt sich im Rinderbereich gut durch die Anwendung von Naturheilverfahren ergänzen. Ein Gespräch über die Chancen und Risiken mit drei Praktikern.

Elite:
Welche Chancen sehen Sie als Tierärztin in der Kombination aus Schulmedizin und Naturheilkunde?

Linda Dachrodt:
Eine Chance auf den maximalen Behandlungserfolg! Ein Tierarzt und ein guter Tierheilpraktiker, die zusammenarbeiten bzw. ein Tierarzt, der sich zusätzlich in der Naturheilkunde fortbildet, können über die Kombination die Genesung im Idealfall beschleunigen.

Elite:
Was sagen Sie als Tierheilpraktikerin?

Angela Esser:
Ich stimme Linda zu. Die Zusammenarbeit kann dazu beitragen, die Kuhgesundheit in einem Bestand zu verbessern, ohne dass chemisch-synthetische Mittel oder Antibiotika eingesetzt werden. Auch im Hinblick auf Resistenzen und dem Ziel, den Antibiotikaeinsatz zu senken, ist das der richtige Ansatz. So kann etwa bei einer leichten Infektion zunächst die Selbstheilungskraft eines Tieres über Homöopathie oder Akupunktur angeregt werden, bevor bei ausbleibender Besserung zu einem Medi- kament gegriffen wird.

Elite:
Welche Erfahrungen konnten Sie diesbezüglich in Ihrem Kuhstall sammeln, Herr Kreikenberg?

Norbert Kreikenberg:
Ich war es gewohnt, dass zu dieser oder jener Erkrankung ein geeignetes Medikament vom Tierarzt verschrieben oder verabreicht wurde. Meistens mit Erfolg. Aber die Medizin kann auch nicht jedes gesundheitliche Problem lösen. Gerade in komplexen Fällen kann ich gute Effekte sehen, wenn Angela Esser akupunktiert. Die Tiere wirken erleichtert und gestärkt. Etwa Kühe, die nach der Abkalbung erschöpft sind. Ich arbeite seit Jahren ergänzend mit Angela und meinem Hoftierarzt zusammen. Die Kombination ist mir wichtig, denn auch bei den Naturheilverfahren sehe ich Grenzen.

Elite:
Welche zum Beispiel?

Norbert Kreikenberg:
Eine Coli-Mastitis etwa. Hier muss sehr schnell behandelt werden, damit die Kuh nicht zum Festliegen kommt. Die Naturheilkunde sehe ich eher angebracht, wenn nicht ad hoc gehandelt werden muss.

Elite:
Frau Dachrodt, wie gehen Sie in der Praxis mit der Ergänzung der beiden Richtungen um?

Linda Dachrodt:
Im Fall akuter Geschehen, wie etwa der Coli-Mastitis, ist der schulmedizinische, krankheitsorientierte Ansatz der richtige. Die Wirksamkeit der Intensivtherapie ist hier erwiesen. Es ist wichtig, dass Tierhalter, Tierheilpraktiker, aber auch Tierärzte rechtzeitig erkennen, wann eine Intensivtherapie nötig ist! Ebenso wichtig finde ich es heute aber auch, zu erkennen, wann ein Naturheilverfahren hilfreich sein kann. So setze ich bei der Geburtshilfe und zum Lösen der Nachgeburt gerne Akupunktur ein.

Elite:
Wo sehen Sie die Grenzen, Frau Esser?

Angela Esser:
In den Naturheilverfahren liegen die Grenzen für mich absolut in der Behandlung von Brüchen, akuten Entzündungen und in der Chirurgie. Hier kann die Naturheilkunde unterstützen, aber niemals alleine heilen. Grenzen in der Schulmedizin sehe ich in der Lösung von Blockaden und der Anregung der Selbstheilungskräfte. Sie kann den ganzheitlichen Ansatz im Sinne von der Gesamtheit aus Körper, Geist und Seele nicht leisten.

Elite:
Die Ausbildung zum Tierheilpraktiker ist bisher nicht geregelt, das birgt Risiken. Woran erkennen Rinderhalter einen fähigen Tierheilpraktiker?

Angela Esser:
Die beste Ausbildung leistet die staatlich anerkannte Akademie für Tiernaturheilkunde. Hier vermitteln Tierärzte und Biologen als erstes die tiermedizinischen Grundlagen in Anatomie, Physiologie und Krankheitslehre. Darauf aufbauend werden die Naturheilverfahren in Diagnostik und Therapie gelehrt. Erst auf diese mehrjährige Grundausbildung fußt die Spezialisierung in Verfahren und Tierarten. Entscheidend ist es, danach viel praktische Erfahrung zu sammeln. Ich habe dafür lange in Tierkliniken und bei Tierärzten hospitiert, bevor ich mich selbstständig machte. Für Seriosität spricht zudem, wenn Tierheilpraktiker über das Zertifikat der Industrie- und Handelskammer verfügen und sie Mitglied im Fachverband sind. Bezüglich des praktischen Könnens sagen letztendlich Empfehlungen am meisten aus.

Elite:
Ist es absehbar, dass die Ausbildung als anerkannter Ausbildungsberuf geregelt wird?

Angela Esser:
In Kürze nicht. Aber der Fachverband Niedergelassener Tierheilpraktiker, der FNT, bemüht sich sehr darum. Das lässt mich hoffen.

Elite:
Inwiefern kommt man im veterinärmedizini- schen Studium mit Naturheilverfahren in Berührung?

Linda Dachrodt:
Eigentlich gar nicht. Aber es wäre wünschenswert, wenn hier Zusatzkurse angeboten würden. Das Lernen würde leicht fallen, denn das nötige anatomische und physiologische Wissen haben die Studenten ja. Außerdem ist es an der Zeit, finde ich. In der Humanmedizin hat die Naturheilkunde schließlich lange Eingang in die Lehre gefunden.

Elite:
Was verleitet Sie dazu, sich zusätzlich zur klassischen Lehre in der Naturheilkunde fortzubilden?

Linda Dachrodt:
In der Praxis fragen uns häufiger Kunden nach Alternativen, meist zur Homöopathie. Um hier weiterhelfen zu können, habe ich angefangen, mich mit der Homöopathie zu beschäftigen. Akupunktur lerne ich, weil ich hier verlässliche Erfolge sehe. Ihre Wirkung ist wissenschaftlich erwiesen.

Elite:
Und wenn sich Tierhalter Kenntnisse in Naturheilverfahren aneignen möchten?

Angela Esser:
Dann rate ich ihnen an Seminaren teilzunehmen, die Tierheilpraktiker geben, die die beschriebene Ausbildung durchlaufen haben und praktisch im Rinderbereich tätig sind. Danach sollte man gezielt fragen. Aus der Ausschreibung des Seminars muss Praxisbezug hervorgehen. Der ist nötig, um das richtige Gefühl entwickeln zu können. Dass Landwirte sich hier fortbilden, befürworte ich. Sie sind es, die ihren Tieren am nächsten sind und als erstes sehen können und müssen, wenn es Probleme gibt.

"Die Kombi beider Richtungen erhöht den Behandlungserfolg"
Linda Dachrodt, Tierärztin


Elite:
Die ganzheitliche Bestandsbetreuung ist heute Standard in Rinderpraxen. In den Teams finden sich dabei zunehmend Experten für Fütterung oder Stallhygiene, die keine Tierärzte sind. Können Sie sich auch einen gut ausgebildeten Tierheilpraktiker in einem solchen Praxisteam vorstellen?

Linda Dachrodt:
Klar. Man könnte viel voneinander lernen. Ich wünsche mir, dass sich mehr Tierärzte gedanklich für die Naturheilkunde öffnen. Es ist keine Konkurrenz, sondern eben eine Chance.

Angela Esser:
Das ist, meines Wissens, ein bislang nicht erfüllter Wunsch. Im Sinne der Tiergesundheit hoffe ich, dass es die junge Generation jetzt schafft, hier offen aufeinander einzugehen.

Autor: K. Berkemeier

Unsere Gesprächspartner:

Linda Dachrodt, Tierärztin (NRW): Seit 2,5 Jahren in der Rinder- praxis, derzeit neben ihrer Promotion tätig in der Tierärztlichen Praxis für Rinder LandVet. Zusatzqualifikation in der Naturheilkunde: Akupunktur und Homoöpathie beim Rind.

Angela Esser, Tierheilpraktikerin (NRW): Ausbildung an der Akademie für Tiernaturheilkunde (ATM, staatlich anerkannt), seit über zehn Jahren Behandlung von Rindern. Eigene, IHK-zertifizierte Praxis. Spezialisierung beim Rind auf Akupunktur, Homöopathie, Laser- sowie Blutegeltherapie.

Norbert Kreikenberg, Landwirt (NRW): 68 melkende Kühe plus Nachzucht und Bullenmast. Milchleistung 11.000 kg. Arbeitet ergänzend zum Hoftierarzt mit einer Tierheilpraktikerin zusammen.


Veröffentlicht am 05.03.2020 von Katrin Berkemeier im ELITE: Magazin für Milcherzeuger